Heute ist Karfreitag, ein Tag, der Raum zum denken oder nachdenken bietet. Für Christen, aber auch für Nichtchristen. Feiertage sind ruhige Tage und die Hektik des Alltag verschwindet mit dem Ladenschluss. Der heutige
Selber denken Beitrag, ist länger als seine Vorgänger und braucht ein Platz im Kopf. Erfüllt ihn.
Was denkst du Indre?
Selberdenken. Was heißt das eigentlich? Die Evangelische Kirche spricht von „7 Wochen ohne falsche Gewissheiten“. Doch was sind Gewissheiten? Woher weiß ich,
wann sie falsch und wann sie richtig sind? Und wie denkt man ohne Gewissheiten
– ganz gleich, ob sie nun falsch oder richtig sind? Das diesjährige Fastenmotto
der Evangelischen Kirche lässt mich ein wenig ratlos zurück.
Versuch
einer Antwort. Oder: Eine Anleitung zum Selberdenken
von Indre Zetzsche
Auf
der Suche nach Antworten, landete ich schließlich dort, wo ich das Denken einst
erlernte: an der Universität. In meinem Studium bin ich den Gewissheiten gleich
von zwei Seiten zu Leibe gerückt: analytisch und empirisch. Man kann sich
darüber streiten, ob die Fächerkombination aus Kulturwissenschaft und
Europäischer Ethnologie gescheit ist (unter dem Aspekt der beruflichen
Verwertbarkeit sicher nicht). Mir hat sie nicht geschadet. Im Gegenteil. Ich
profitiere bis heute von der Kunst des geordneten Denkens, die ich dort
erlernte. Fürs Selberdenken war – wie ich rückblickend feststelle – vor allem
das Studium der Europäische Ethnologie von unschätzbarem Wert.
Wer
Europäische Ethnologie studiert, steht vor einer besonderen Herausforderung: Er
muss die eigene Kultur erforschen. Für nichts ist man blinder. Sie ist das
Fundament unserer Gewissheiten. Zweifelsfrei und unhinterfragt. ‚So ist das
eben!’ ‚So macht man das halt!’ Eines der ersten Dinge, die wir angehenden
Ethnologen daher lernten, war die Techniken der Verfremdung und der ‚dichten
Beschreibung’.
Sie
sind ein guter Weg zum Selberdenken. Darum versuche ich sie für Marleens Blogaktion
– im Sinne einer Anleitung zum Selberdenken – zu rekonstruieren.
Schritt 1: Dem Zweifel Raum geben
Zunächst
mussten wir Studierenden dem Zweifel einen Platz in unserem Denken einräumen. Er
zog in Gestalt einer Frage ein und war anfänglich sehr schüchtern. Wir mussten
ihn stets ermuntern, sich herauszuwagen. Doch schon bald wurde er mutiger und
breitete sich in unserem ganzen Denken aus: ‚Ist
es tatsächlich so, wie es auf den ersten Blick scheint?’ Der Zweifel half
uns, Abstand zu unseren Gewissheiten zu gewinnen und eröffnete zugleich einen Möglichkeitsraum:
Es könnte auch ganz anders sein.
Schritt 2: Die Rezeptur der Gewissheit finden
Im
zweiten Schritt untersuchten wir die Beschaffenheit unserer Gewissheiten. Mit Unterstützung
einschlägiger Fachliteratur (bei Interesse
erstelle ich gerne eine kleine Literaturliste) kamen wir ihrer
Grundsubstanz schnell auf die Spur: Regeln, Werte und Normen. Sie formen unsere
Wahrnehmung, und leiten uns in unserem Tun und Denken ohne – und das ist der
entscheidende Punkt – dass wir uns ihrer bewusst sind. Wir sind uns ihrer
gewiss.
Schritt 3: Die Wahrnehmung wahrnehmen
Lektion
3 lautete: Die eigene Wahrnehmung wahrnehmen. Das Vertrackte mit dem Wahrnehmen
ist, dass sich unsere Gewissheiten immer zwischen uns und die Welt schieben,
und sie entsprechend ordnen und einfärben. Ein Beispiel:
In der Münchener U-Bahn
saß eine dunkelhäutige Frau neben einem hellhäutigen Kind, dem die Nase lief.
Neben den beiden saß eine ältere Dame, die die beiden aufmerksam beäugte. Nach
einer Weile griff sie in ihre Handtasche, holte eine Packung Taschentücher
heraus und reichte sie der Frau mit den Worten: ‚Richten Sie den Eltern des
Kindes aus, dass es Ihnen künftig ausreichend Taschentücher mitgeben.’
Die
Reaktion der älteren Dame verrät viel über ihre Welt und wenig über die Wirklichkeit.
Sie ging offensichtlich davon aus, dass die dunkelhäutige Frau die Kinderfrau des
Mädchens war. Tatsächlich war es seine Mutter. Als Ethnologe darf einem ein
derartiger interpretatorischer Kurzschuss natürlich nicht passieren, und so wurden
wir für den feinen Unterschied zwischen Beobachten und Interpretieren
sensibilisiert.
Hätte
die ältere Dame in der Münchener U-Bahn beobachtet, hätte sie Folgendes wahrgenommen:
Neben einer
dunkelhäutigen Frau sitzt ein hellhäutiges Mädchen, dem die Nase läuft. Die
beiden scheinen vertraut miteinander zu sein; keine von beiden reagiert auf die
laufende Nase des Kindes.
In welcher Beziehung die Zwei zueinander stehen, ob sie keine
Taschentücher haben oder ob sie die laufende Nase schlichtweg nicht wahrnehmen,
darauf gibt die Situation allein keinerlei Hinweise.
Schritt 4: Vom reinen Wahrnehmen zum dichten
Beschreiben
Das
Beobachtete allein ist etwas mager. Spannend wird es ja erst, wenn wir die Wirklichkeit
hinter der bloßen Erscheinung aufspüren. – Warum ging die ältere Dame davon
aus, dass die dunkelhäutige Frau nicht die Mutter des Mädchens war? Um die
Hinter- und Beweggründe der Menschen zu verstehen, wurde uns angehenden
Ethnologen die ‚dichte Beschreibung’ ans Herz gelegt. Hierbei taten wir im
Grunde das, was wir mit Schritt 3 abgelegt hatten: Wir interpretierten das
Beobachtete vor dem Hintergrund kultureller Gewissheiten – mit dem kleinen,
aber feinen Unterschied, dass wir uns ihrer
bewusst sein mussten.
Um das
Verhalten der älteren Dame zu verstehen, würde ich als Ethnologin also zunächst
herausfinden, aus welchem Milieu sie stammt und dann die dort geltenden Regeln,
Werte und Normen analysieren. Auf Basis dessen könnte ich ihr Verhalten in der
U-Bahn schließlich ‚dicht’ beschreiben.
Diese
Beschreibung könnte von einer Frau handeln, die aus einem wohlhabenden, katholischen
Elternhaus stammte und in eine ebenso vermögende und wertekonservative Familie
eingeheiratet hatte. In dieser Welt des ‚erlesenen Geschmacks’ und ‚feinen Sitten’ war es Gang und Gebe, eine Kinderfrau
zu haben oder wenigstens ein Au-Pair ‚aus Übersee’. Man war nicht
‚rassistisch’, doch blieb man unter seinesgleichen. Eine Verbindung mit
Menschen anderer Kulturen ging man in diesen Kreisen niemals ein. Dass Kinder
eine andere Hautfarbe als ihre Eltern haben, kam also nicht vor bzw.
konnte/durfte nicht vorkommen. ...
Selberdenken.
Denken ohne Gewissheiten. Das ist für mich als Ethnologin ein Denken auf
Distanz und ein Denken in Möglichkeiten. Bequem ist das nicht, aber umso bereichernder.
Denn es könnte eben immer alles auch ganz anders sein. Im Zweifel vielleicht
sogar besser.